Oberstadt

„Red nicht so laut, herrscht die alte Tochter die noch ältere Mama an. „Red nicht so laut. Hier wohnen lauter böse Leute.“ „Was“, brültt Mama? Mit unpassendem, angeekeltem Entsetzen dreht sich die Tochter um, ob die Bösen näher kommen. „Frohe Ostern“, sage ich freundlich, aber die Tochter hat so viel Schlechtes über die Oberstadt gehört, da zerrt sie lieber erschreckt an Mamas Rollator, dass diese fast stolpert, aber noch freundlich:

common sense

Manchmal reicht das niggelige Geplapper einer R-Rentnerin, um das Wohlfühllevel um drei Punkte sinken zu lassen. Es ist Stöhntag. Die Kälte läßt alle das Gesicht verziehen und seltsam gequälte Geräusche machen. Ein Gefühl, wie in einer Apfelblüte sitzend, die zum Schutz vor Kälte einen Eispanzer aufgesprüht bekommt. Auch, wenn es durchaus ein poetisches Bild abgeben würde, ich in einer gefrorenen Apfelblüte, ist es doch eher utopisch, da ich zum fresekötteln

nich so dolle

Es ist strategisches Zurückweichen, wenn ich eine Tasse Kaffee haben möchte, aber zwei weibliche Vertreterinnen der R-Rentner an der Theke stehen. Wenn zwei von ihnen zusammenglucken, werden ihre Auren toxisch hochtransformiert. Da möchte ich jeglichen auratischen Kontakt vermeiden. So schlimm kann kein Durst sein, dass ich mich an ihrem Gift verätze. Meine Frisur sitzt, Licht und Ton stehen, und langsam bekommt sogar der Text Bedeutung. Uiuiuiui. Da kommt es nicht

platsch

Je schöner das Wetter, desto schwieriger ist es, ins Theater zu verschwinden. Und es ist grade richtig schön. Dafür ist es im Theater richtig muckelig warm, um die Luftfeuchtigkeit von 200% zurückzudrängen. Es tropft an vier Stellen durch die Decke. In ruhigen Momenten auf der Bühne hör ich es platschen, auf drei Positionen seh ich die Tropfen sogar im Scheinwerferlicht. Die Regenfluten der letzten Tage haben wohl die letzten Dichtungen

Schwarzer Splitstaubmodder

„Ach. Man weiß ja nicht, man weiß ja nicht, was kommt.“ „Zum Glück. Aber ich hab dem Paul und Tante Frieda eingebläut: Haarschnitt immer nach der Dauerwelle. Und Messerschnitt für die Stufen. Nicht so über den Finger schneiden. Das hab ich denen eingebläut. Jetzt muß ich aufs Klöchen, wenn ich aus diessem Stuhl herauskomme.“ Ein Chef von irgendeinem städtischen Amt inspiziert mit zwei Beamtinnendas letzte Stück Zone im Schotterzustand. Kann

Nachtrag

Kurze Zusammenfassung, was vom letzten Juni bis jetzt so aufgeschrieben wurde. Langsam gibt es einen Wortstau in mir. Schon so lange keine Zeile mehr geschrieben, dass die Buchstaben Staub ansetzen. Tintenstaub. Was gibt es auch groß zu berichten. Die Welt ist nicht explodiert. Immerhin. Die Zeugen Jehovas trinken Kaffee in der Oberstadt. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, spiel mit deinen Brüdern.

Verdichtet

Es liegt ein Himmel über der Stadt, wie wasserschwere Federbetten. Die gute Laune flattert auf Halbmast. Es riecht nach Flüssigseife aus öffentlichen Spendern, Baggerdiesel und Schwefelwasserstoff. Der Duft der Wanderbaustelle, Der alte Mann des Musikgeschäftes steckt seinen weißhaarigen Kopf aus der Tür, schnuppert und verzieht das Gesicht. Dann wendet er sich den angeklebten Plakaten zu und reibt über jedes Stückchen Tesafilm, als wäre es sein Frühsport. Der Wind erzählt meiner

Sonne

Zitternder Asphalt, bebendes Pflaster, die Wanderbaustelle gibt Laut an jedem neuen Ort in der Zone, der mit dem Pressluftbagger aufgerissen wird. Brüder zur Sonne zur Freiheit, Schwestern, das gilt nicht für euch. Der Stadtanzeiger geht mit vorgestrecktem, rotgeschabten Kinn und aufgestellter Brust mit pendelnden Armen, durch den Flickenparcour der Zone. Seine blaue Uniform glänzt frischgereinigt in der Sonne. Ballistol tropft aus der Acht. Die Fachfrau für Kaffeeverbrennung stellt Stühle auf.

Gewes

Fleischpasteten und Overallträger. „..und noch ’ne Bild dazu und nen Kaffee.“ Die Männer gehen armfrei im Unterhemd am frühen Morgen. Das blaue, kyrillische Gekritzel unter der fahlen, wabbeligen Speckhaut könnte man bestimmt lesen, wenn man mit den Fingerkuppen über die Gänsehäute striche. Aber wer möchte das schon. Reinweiße Betonmischer, mit rotierender Trommel ohne einen Spritzer Dreck, strahlen eine chirurgische Eleganz aus, wenn sie leise durch die Zone rollen. Sie legen

Weiberfastnacht

98% aller Männer mit Anglerhut sehen doof aus. Bei der australischen Variante, mit Korken und anderem Gebamsel an der Krempe, sind es sogar sagenhafte 100%. „Kumma ey. Kumma.“ Die Rößler-Rentner reagieren auf die vorbeigehenden, verkleideten Frauen mit verschwommener Aussprache und erigiertem Zeigefinger. Es ist Weiberfastnacht. „Du kannst Weihnachten nicht leiden. Du kannst Karneval nicht leiden. Gibt es überhaupt ein Fest, das Du magst?“ „Das Leichenwendefest auf Madagaskar.“ Alle, die heute