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„Sie haben aber ein Taschenmesser dabei“, sagt der Justizbeamte vom Gelsenkirchener Justizzentrum.
Noch ist sein Blick freundlich, die Rechte hängt nah am Holster, während meine Jacke und Hose langsam aus dem Scanner rollen.
„Mein blaues McGyver? Das ist ein Schweitzer Taschenmesse.“
„Holen Sie das bitte mal raus.“
Ich folge seiner Anweisung, krame das kleine Multifunktionalstool aus de Tasche und übergebe es ihm.
„Ganz schön groß“, sagt er mit zweifelndem Gesicht und zeigt es seinem Kollegen hinter dem Sicherheitsglas. Der winkt ab.
„Gut. Dann lass ich das mal durchgehen. Sie auch“, scherzt er und winkt mich weiter.
Beim ersten Mal, knapp eineinhalb Stunden vorher, purzelte der gesamte Inhalt der Tasche und Jacke über den Boden, nachdem ich baselig die Scannerkiste von den Rollen schubste. Da war ihm der blaue McGyver nicht aufgefallen.
„Was wollen Sie“, fragte da die Beamtin am Nachlassgericht. „Haben Sie K?“
Ihre Frage hörte sich an wie die einer Kundin an ihren Dealer. Koks, Ketamin, Kohlehydrate?
„Ja.“
„Sie kommen zu spät. Erst um zwei wieder. Jetzt ist die Sprechzeit vorbei.“
Jetzt bedeutete zwei Minuten nach halb Zwölf.
„Pardon. Ich komme aus dem Sauerland. Und im Netz stand nichts von Sprechzeiten.“
Sie grummelte und greinte, konnte sich aber doch zu einem: „Ich kann ja schon mal die Akte anlegen. Name?“
„Meinen, oder den meiner Schwester?“
„Wer ist denn verstorben?“ Und Ihr Blick sagte: na das wird lustig.
Ich gab ihr den Namen und schob vorsichtshalber meinen Ausweis in ihre Richtung.
„Ich lege jetzt die Akte an. Um 14.00 Uhr müssen Sie dann zum Gerichtspfleger. Der hat ab 14.00 Uhr wieder Sprechzeiten. Zimmer 42. Wir haben nämlich Sprechzeiten.“
Während sie den Satz mit den Sprechzeiten zum dritten Mal wiederholte, wählte sie jemanden an.
„Kannst Du noch einen machen? Ach du Scheiße. Ja, aber der kommt aus dem Sauerland. Ist gut. Ich sag`s ihm“, seufzte sie mit dem Ton einer zu tiefst erschöpften Heroine.
„14.00 Uhr. Zimmer 42. Aber kommen Sie eher. Die Schlange ist lang. Deswegen ja die Sprechzeiten.“
Als ich kam, saß ein Mann auf den grau-grünen Drahtgeflechtkinostühlen im Flur vor Nr.42.
„Oben ist die Kantine, das Stadtzentrum ist nah. Sie sollten nur schon eher hier sein. So halb zwei. Dann sind Sie der erste in der Schlange.“
Damit nickte sie mir zu und schob mich mit ihren Augen aus dem Aktenraum.
Ein halbes Stockwerk tiefer ist selbst das Verlassen des Gebäudes mit großen Schildern geregelt.

  • Zum Tür öffnen bitte hier den Knopf drücken –
  • Gehen Sie bis zur Mitte des Raumes. Tür schließt selbsttätig –
  • Warten Sie –
  • Wenn Sie in der Mitte des Raumes warten, öffnet sich der Ausgang selbsttätig –

Ich gehe erst einmal in die Richtung, in der ich nach zwanzig minütiger Suche einen Parkplatz fand, lasse den Wagen links liegen und stehe nach zwei Minuten vor dem Gelsenkirchener Bahnhofseingang mit allen Kaputten dieser Welt. Eine Frau mit tiefen Schattenringen und einem blaugeschlagenen Augen kommt weinend aus dem Gebäude
Wenn man früher aus dem Bahnhof Altona kam und die Richtung Ottensen einschlug, war es auch kaputt mit seltsamem Volk. Hier ist nur kaputt. Menschen, Läden, Umgebung. Nein, diese Zone mit einem Billigladenüberangebot gehört nicht zu meinen Lieblingen.
Ich verzehre in einem Bäckereicafe Kaffee und Croissant, während das Elend flaniert.
Um halb Zwei bin ich zurück, stolpere kurz über das blaue McGyver und sitze pünktlich, als einziger, auf einem der grau-grünen Drahtgeflechtkinostühle vor Nr. 42.
Kurz nach mir kommt ein Mann mit Akten unter dem Arm und schließt die Tür auf.
„Sind Sie, haben Sie, Sauerland?“
Er schaut mich fragend an. Ich nicke.
„Kommen Sie. Gehen wir rein.“
Noch im Türrahmen, die Akten auf einen großen Stapel weiterer Akten legend, fragt er mich: „Haben Sie Kinder? Ich les hier nichts.“
„Ja. Eine Tochter.“
„Ah. Die ist dann nach Ihnen dran.“
„Was ist mit meinen Halbbrüdern?
„Sind die hier?“
Verwirrt verneine ich.
„Sehen Sie.“
Er tippt schnell auf seiner Tastatur.
„Mein Drucker“, sagt er, und es schwingt ein wenig der Stolz von Porschefahrern in ihm,
„hatte heute morgen keine Tinte mehr. Echt. Heute war die Hölle los. Und go“.
Er drückt mit ausgestrecktem Zeigefinger enter und der Drucker surrt.
Wir kommen noch einmal auf Tochter und Halbbrüder, und als er sagt, die Halbbrüder seien jetzt vollkommen egal, stimme ich ihm schon gerne zu.
„Hat ihre Tochter ein Kind. Das wäre dann das Dritte im Bunde.“
„Ja.“
„Ist auch erbberechtigt. Muß auch zurücktreten, also die Erziehungsberechtigen an Stelle.“
„Aha.“
„Hier“, gibt er mir den Ausdruck. „Lesen Sie es sich genau durch und unterschreiben Sie. Ist der Name richtig geschrieben? Nein, seh ich schon. Doppel N. Das hat die Kollegin wohl falsch gemacht. Lesen Sie, ich ändere das kurz. Das können Sie behalten. Ist kein Dokument mehr.“
Ich lese über die Konsequenzen, wenn ich das Erbe meiner Schwester ausschlage und versichere mit der Unterschrift, nichts von ihr in Besitz genommen zu haben.
„Ich hab die Leiche mitgenommen.“
„Das dürfen Sie aber doch nicht.“
„Der Bestatter. Nicht ich. Ich hab sie überführen lassen. Hat das Konsequenzen?“
„Ja. Das Ordnungsamt muß nicht für die Kosten aufkommen, ansonsten, nein. Hier unterschreiben.“
Er hält mir das frisch ausgedruckte Dokument hin.
„Ihre Tochter wird von uns schriftlich benachrichtigt. Ihr Enkelkind ebenso.“
Er setzt sich vor seine Tastatur und sieht das Gespräch wohl als beendet an. Also ziehe ich meine Jacke an, stecke das Nichtdokument mit falschgeschriebenem Namen in die Tasche und gehe nicht, ohne freundlich zu grüßen.
Draußen sitzt keine Menschenseele. Der Gang ist leer. Schlange.

  • Zum Tür öffnen bitte hier den Knopf drücken –
  • Gehen Sie bis zur Mitte des Raumes. Tür schließt selbsttätig –
  • Warten Sie –
  • Wenn Sie in der Mitte des Raumes warten, öffnet sich der Ausgang selbsttätig –

Gelsenkirchen, Du mußt was tun.

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