Da war ein helles Flirren, eines, das Ohren und Augen weht tut. Es schien von überall her zu kommen. Mühsam bewegte ich meinen Kopf nach rechts, nach links, mehr Bewegung war nicht möglich. Das mochte daran liegen, dass das Flirren jetzt auch in meinem Körper zu spüren war. Es war nicht wirklich schmerzhaft. Unbekannt, ja. Erschreckend, unbedingt. Ich ging in die Hocke, weil ich das Gefühl hatte, so besser atmen zu können.

Hörsturz, Schlaganfall waren Begriffe, die kurz aufflackerten, aber auch ebenso schnell wieder verschwanden.

Tatsächlich fiel mir jetzt das Atmen leichter.

Allerdings erhöhte der Druck auf meinen Brustkorb auch den Druck auf den entzündeten Zahnstumpf in meinem Oberkiefer.

Vom Regen in die Traufe, nuschelte ich, während ich mit weit aufgerissenen Augen die Bodenbretter zu fixieren versuchte.

Das Flirren war einer Unschärfe gewichen, die den Fußboden zwar heller erscheinen ließ, aber auch durchlässiger. So schien es der gesamten Umgebung zu gehen. Die festen Formen verloren an Struktur.

Ich zog scharf die Luft ein, was dem Zahnstumpf mit seinen Nerven gar nicht gefiel. Aber der Schmerz bracht Klarheit.

Keine Halluzination, dachte ich und hob den Kopf. Blickte mich um. Da war kein Raum, nur Dunst. Vorsichtig tastete ich den Boden auf seine Festigkeit ab. Schließlich war unter meinen Fußsohlen etwas, dass mich trug.

Auch im näheren, erfühlbaren Umkreis war es fest unter meinen Handflächen.

Langsam stand ich aus der Hocke auf. Mein Gleichgewichtssinn spielte mit. Mein optisches System brauchte noch einen Moment. Die Verarbeitungssoftware hinkte arg hinterher.

Für das, was und wie gerade etwas um mich herum entstand, gab es keine Erfahrungswerte.

Der Dunst verfestigte sich. Löste sich langsam auf. ich stand in etwas, das ich als Halle vermutete, obwohl ich keine Decke oder Wände ausmachen konnte. Irgendwie Halle.

„Ach du meine Güte. Ach du meine Güte“, hörte ich eine entfernte Stimme sagen. „Nicht das schon wieder. Du hast mir versprochen: keinen Schabernack mehr. Du meine Güte.“

Zu der Stimme gesellte sich jetzt ein Körper. ich konnte weder Alter noch Geschlecht bestimmen, selbst bei der Benennung der Spezies bekam ich Zweifel.

“Geht´s gut?”

Ein Gesicht schaute mich an. Fragende Augen, Nase, Mund, Ohren alles da. Ich wollte antworten, konnte aber nur krächzen.

“Das wird schon”, meinte mein Gegenüber trocken. “Komm mit.”

Bewegung war mir ähnlich wie mein Sprechversuch. Krächzend. Die ersten Schritte hölzern, marionettenhaft. Auch mein Sichtfeld schien verengt. Immer wieder verschwand die Figur vor mir, tauchte auf, war wieder weg.

“Du machst das gut. Die Anderen waren panischer.”

Dann kicherte die Person, und aus irgendeinem Grund übte das Druck auf meinen entzündeten Zahnstumpf aus.

“Aua.”

“Was tut weh”, fragte die Figur, während ihr Gesicht ganz nah an meinem war. “Übergangswehwehchen?”

Sie kam mir jetzt weiblich vor, etwas älter, wie eine besorgte Krankenschwester.

“Ihr Kichern.”

“Oh.”

“Welche Anderen? Wo bin ich?”
“Eins nach dem andern. Hast Du ein Teleskop?”

Die Frage kam völlig unvermittelt. Schweigendes Nicken.

“Nach jedem Transport ist es klug, die Spiegel neu zu justieren.”

Wieder Nicken.

“Darf ich Dich kurz justieren?”

Zweifelndes Nicken.

Das Gesicht entfernte sich, jetzt freundlicher Mann in den Fünfzigern. Ich sah den Zeigefinger der linken Hand kommen. Der piekste in meinen Bauch, dass ich vornüber klappte. Die rechte hand sah ich nicht kommen, aber ich spürte den Schlag auf meinem gebeugten Rücken.

“Wow.”

Plötzlich konnte ich Fliesenmuster auf dem Boden erkennen. Alles war wieder in die richtige Perspektive gebracht. Als Letztes rastete die Akustik ein.

Flüsternde Maschinen erzählten von ihrer unterirdischen Arbeit. Flüssigkeiten die leise blubbernd, in Rohren die Halle umkreisten. Große Ventilatoren in träger Drehung. Alles Geräusche, die nach und nach in den Hintergrund rückten.

“Besser? Was trinken?”

“Viel besser. Wasser bitte, ja.”

“Ham wa nich.”

“Was?”

“Wasser.”

“Aha.”

“Is so.”

In das folgende Schweigen von irgendwoher ein Geräusch des Saugens. Trockenheit im Mund.

Die Person vor mir bückte sich, suchte kurz den Boden ab, hielt dann etwas kieselähnliches zwischen Zeigefinger und Daumen und ließ es in meine Handfläche fallen.

“In den Mund nehmen und lutschen. Nicht schlucken. Löscht den Durst.”

Ich tat wie geheißen. Die trockene Zunge schwamm plötzlich in einer Flüssigkeit, von der ich nicht sagen konnte, ob sie von dem Kiesel produziert wurde, oder es nur erhöhter Speichelfluss war. Jedenfalls verschwand der Durst, ebenfalls das Sauggräusch.

“Wo bin ich hier?”

“Wird Dir nicht viel sagen. Sei´s drum. Sektion 12, Abteilung 23, dann noch eine Zahlenreihenfolge. Die kann ich aber nicht auswendig. Irgendwo hab ich die aufgeschrieben.”

“Wie komme ich hier her?”

“Das allerdings ist eine interessante Frage, weil die Kombination von Zufällen für einen Übergang äußerst selten auftritt.”

“Übergang?”

“Von da nach hier. Wobei da, keine Ahnung, wo das ist.”

“Wer sind Sie?”

“Con.”

“Also, Con. Ich zittere am ganzen Körper, ich schmecke Thymian und Nelke und ich möchte wissen, wo ich bin und wie ich hier her gekommen bin.”

Con lachte, und als ob es nicht schon seltsam genug wäre, sang und tanzte er vor mir: “I´m a puppy girl, in a puppy world”, und bewegte sich von mir weg, schlug mit der flachen Hand auf eherne Maschinenteile, drehte Pirouetten und kam vor einem Becken mit den Aussmaßen eines Fußballplatzes zur Ruhe.

Am Beckenrand sah ich eine Apparatur mit Lichtern und Knöpfen und einem Bildschirm.

Im Becken selber war etwas. Keine Flüssigkeiten, dachte ich. Flüssigkeiten bewegen sich anders,

Durchsichtiger Nebel, ständiges, kurzes Aufleuchten und Erlöschen, ein waberndes Meer von kleinen Lichtern. Irgendwie lebendig.

Con drückte einen Knopf, der Bildschirm sprang an.

“Mal sehen, mal sehen, mal sehen.”

Unbekannte Zeichen und Symbole liefen über den Bildschirm, begleitet von Cons: “Nein. Nein. Auch nicht. Auch nicht. Nein”, bis er schließlich: “Du aber und du auch”, sagte und sich mit einem ;”Alles klar” zu mir drehte.

“Wie schon gesagt. Ungünstiges Zusammentreffen verschiedener Seinszustände. Ein alter, gesunder Baum wurde gefällt. Das kombiniert mit zwei Befruchtungen und der Frequenz eines Hochleistungsbohrers hat von da nach hier einen Kanal geöffnet.”

“Ich versteh kein Wort.”

“Fällt man einen gesunden Baum, gibt es eine Zwangsöffnung im Bewußtseinstransfer des Baumes. Vergeht er natürlich, ist da ein Ausgang für alle Erfahrungen. Langsam und stetig. Nicht wie ein Paukenschlag, wo alles auf einmal hier landet.”

Con schaute mich an, fand aber kein Verständnis.

“Gleichzeitig wurden in Deiner nächsten Umgebung zwei Eier befruchtet, was zur Folge hatte, dass sich von hier zweimal schlafendes Bewußtsein auf den Weg gemacht hat.”

“In die befruchteten Eier.”

“Genau. Und wenn dazu eine passende Frequenz, sagen wir, die von einem Zahnarztbohrer, mitschwingt, kann es sein, dass sich ein stabiler Durchgang bildet.”

“Aha. Seit wann haben Bäume ein Bewußtsein?”

“Oh, Sekunde. Ich muß Dich noch einmal kurz justieren.”

Sprach´s, und schlug mir mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter.

“Entschuldigenung. Das war eine dumme Frage. Was ist schlafendes Bewußtsein?”

“Hilf mir, dann erklär ich es Dir.”

Con schaltete desn Bildschirm aus, schmunzelte mich an, nahm meine rechte Handund wies mit dem Kinn Richtung Becken, machte einen großen Schritt und wir standen auf dem altersgraugrünen Betonrand.

“Das ist Bewußtsein”, sagte Con und zeigte auf die leuchtende, fast lebendig wirkende Fläche.

“Einfach hinein springen, mit den Armen rudern, verrühren. Mach´s mir nach.”

Con setzte sich an den Rand, ließ sich hineingleiten und stand bis zur brust in diesem, lebendig wirkenden Etwas. Dann pflügte er mit beiden Armen und großen Schritten durch die Substanz.

“Los komm! Das kitzelt!”

Vorsichtig folgte ich und als ich erleichtert feststellte, nicht nass zu werden, machte ich auch große Schritte und ruderte mit den Armen.

“Warum mach ich das”, quietschte es vergnügt aus mir heruas. Um gleich darauf ein schreckliches Knirschen in meinem Kopf zu spüren.

Das kam so überfallartig heftig und verschwand, wie es gekommen war, nicht zuletzt wegen des ausserordentlich angenehmen Gefühls mit dem mein Körper und Geist auf die Substanz reagierte.

“Das ist wie Brauspulver in der Blutbahn”, kicherte ich, “wie ein Gedanke, der das Gehirn erfrischt.

“Das ist das Bewußtsein aller Einheiten, die die letzten Tage gestorben sind. Bewußtsein wird verliehen. Nicht verschenkt. Hier fängt es an, hier hört es auf.”

Wieder dieses Knirschen und Knacken, diesmal gepaart mit einem Gefühl ekelhafter, gewaltsamer Zersplitterung, wieder dieses ebenso plötzlche Verschwinden des Gefühls.

“Alpha und Omega”, proklamierte Con mit gewichtiger Stimme, um anschließend laut zu prusten.

“Schlafendes Bewußtsein,” erinnerte ich vorsichtig

“Genau. Da war noch was.”

Er zog einen Arm durch die Substanz, zog den Arm zurück und zeigte die Handfläche.

“Du trennst Erfahrung von Bewußtsein. Du möchtest doch auch nicht, frisch befruchtet, mit einem kompletten Erfahrungsschatz beschwert werden. Bewußtsein ist Anfangs immer unbeschwert, substanzlos. Wie ein weißes Blatt Papier.”

“Und was geschieht mit den Erfahrungen?”

Con bewegte sich jetzt wie ein Mensch, der versucht, schnell durch Wasser zu gehen. Immer wieder blickte er sich um und forderte mich auf, ihm zu folgen. Das große Bassin verengte sich an eier Stelle zu einem Kanal. Hier gab es kein Aufflackern, nur wabernder Dunst, der träge von dem Becken wegfloss und durch eine Öffnung in der Hallenwand verschwand.

“Wir müssen vor die Tür. Dann kannst Du es selber sehen.”

“Das bleibt also vom Menschen übrig”, murmelte ich eher zu mir als zu ihm.

“Sei mal nicht so arrogant.Bewußtsein ist kein menschliches Alleinstellungsmerkmal.

Er öffnete eine Tür. Plötzlich war es so hell, grell, dass ich nichts mehr ausser weiß sehen konnte. Dazu wieder dieses Knirschen und Reißen im Kopf, diesmal mit einem unangenehmen hohen Ton verbunden. Und wieder blitzschnell vorbei und vergessen.

Das Licht wurde erträglich.

Da war keine Landschaft. Da war die Welt zu Ende. Bis auf den kleinen Steg, der von der tür, freischwebend, irgendwohin führte.

Con schritt voran, ich folgte ihm ängstlich bis an eine Brüstung.

“Ich leg Ihnen das Medikament in den Wurzelkanal. Das wirkt zwei Wochen.”

“Wie bitte?”

“Ich rate Dir, Dich gut festzuhalten. Der Sog ist nicht von schlechten Eltern.”

‚Sog‘, wollte ich sagen, da zog es mir auch schon die Spucke aus dem Mund. Con lachte.

“Das geschieht allen, die zum ersten mal mit einem Ereignishorizont konfrontiert werden.”

“Und gleich sagen Sie, da sei ein schwarzes Loch.”

“Genau. Nicht groß. Ca. Achtzig Meter im Durchmesser.”

“Kann ich es sehen?” Ich war plötzlich ganz aufgeregt.

“Natürlich nicht, Dummkopf. Kein Mensch kann es sehen. Aber die Auswirkungen, die kann ich Dir zeigen.”

Er zog mich an die Brüstung, bis das Geländer meinen Bauch eindrückte. Ich blickte nach rechts, sah den Dunst aus der Öffnung der Halle kommen, zuerst als feine Linie, und dann, nicht weit weg, als feine Spirale.

“Sind wir hier sicher?”

“Das ist mein Arbeitsplatz”, empörte sich Con ein wenig. “Alle fünfzig Jahre wird es gefährlich. Dann muß ich den Rand vom Loch reinigen. Erfahrungen verkrusten sehr schnell. Selbst hinter dem Ereignishorizont.”

“Wie bei einer Kloschüssel”, flachste ich, aber Con stieg drauf ein.

“Genau. Hier werden die Erfahrungen durch´s Klo gespült. Bewußtsein wird verliehen, Erfahrungen muß man machen.”

“Ist das eine künstliche Singularität?”

“Was sonst.”

Etwas an seinem Handgelenk piepste.

“Oh,oh. Das ging schnell. Wir müssen zurück in die Halle. Da bildet sich gerade ein neuer Durchgang.”

Ohne meine Antwort abzuwarten, griff er mein Handgelenk und zog mich hinter sich her zurück in die Halle. Das Becken wirkte jetzt bedrohlich. Als lauere am Grund ein Blitze werfendes Monster. Konzentrische Kreise, wie Rauchkringel an der Blasen werfenden Oberfläche. Con stoppte. Ich sauste, getragen von seinem Schwung, an ihm vorbei, hinein in das Flirren, das die Trommelfelle vibrieren lässt, über die durchscheinenden Bodenfliesen in die Orientierungslosigkeit.

“So. Das wäre es für heute. Lassen Sie sich einen Termin in frühestens zwei Wochen geben. Ich habe die Stümpfe extrahiert, zwei Zentimeter in den Wurzelkanal des Schneidezahns gebohrt und dort ein Medikament plaziert. Mindestens zwei Wochen. Wir sehen uns.”

Der Arzt schüttelte meine Hand, während ich noch Wirklichkeiten sortierte.

Eine künstliche Singularität sieht man schließlich nicht alle Tage.

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