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Zeit zur Rekapitulation.
Mein Kopf ist wirr von all den Gebärden.
Eine Woche Sprachfingern macht erstaunlich Dinge mit der Wahrnehmung.
Santana zum Frühstück aus den Bäckereiboxen. Galoppel, galoppel sagt der innere Taktgeber, während der Verstand versucht, das Tempo zu drosseln.
Umweltsäue verstopfen mit Blechkotze die Zone für eine Handvoll Brötchen, und es ist ihnen überhaupt nicht peinlich.
Aber egal. Ich muß die Gebärden sacken lassen. Eine Woche intensiv Gebärdensprache zu erlernen verlangt ihren Tribut.
Kawei S. aus D. ist unsere Dozentin. Sie kommt mit ihrer hörenden Tochter, die leider krank ist und nur die erste Stunde dolmetscht.
Danach sind wir, oh Schreck, den Rest der Zeit alleine mit Kawei und ihren Gebärden.
Dass das nicht einfach wird, bemerke ich spätestens bei dem Erlernen des Fingeralphabets.
„Dein Name wie?“
Beim Wechseln vom M zum N hab ich den ersten Knoten in meinen Fingern.
Meinen Mitstreiterinnen geht es ähnlich. Nach einer Weile schauen wir alle unsere Finger an, als wären sie kleine Aliens, die ihr Geheimnis nicht verraten wollen.
„Mit Übung vergeht das“, versucht uns Kawei zu beruhigen. Die Gebärde für „Üben“ kommt mir sehr bekannt vor, da ich sie im Theater oft unbewußt anwende bei Schauspieler*innen, die partout ihren Text nicht lernen.
Ob ich wohl fleißiger bin?
Am Ende des ersten Schultages sind wir alle einigermaßen gut durcheinander.
Aber natürlich verhindert ein schon länger geplantes Abendessen beim Mongolen ein intensives Üben, so dass ich mit schlechtem Gewissen schlafen gehe und morgens, zwischen Kaffee und Croissont, das Fingeralphabet übe.
Das Gebäude der VHS besitzt eine angenehme Atmosphäre, der Seminarraum einen Rollwagen, auf dem zwei Kannen Kaffee, zwei Kannen Wasser für Tee, ein Teekästchen mit acht verschiedenen Teesorten, sowie zwei bunte Kartons mit leckeren Plätzchen stehen.
Dementsprechend hoch ist mein Kaffeekonsum und der dazugehörige Druck auf der Blase.
Als ich einmal von der Toilette zurückkomme, ist es wirklich spooky beim Betreten des Seminarraumes.
Menschen sitzen sich gegenüber und unterhalten sich gebärend.
Mein Hirn sagt: Fehler. Fehler. Wo ist der Ton?
Denn zu so viel Aktion gehören Geräusch und Sprache, sagt der Kopf in seiner langweiligen Routine.
Wahrnehmung.
Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Kurs mache.
Vor Jahren saß ich einmal in einem leeren Bus von Hamburg/Othmarschen Richtung Innenstadt. An einer Haltestelle kam ein Pulk von Menschen in den Bus.
Sie unterhielten sich, lachten, schimpften, diskutierten, und alles ohne Ton.
Ich, als einzig Hörender, saß da und verstand nichts. Aber ich war fasziniert von der Energie und der Kreativität der Mitfahrenden.
Seitdem will ich das auch können.
„Katze gebärden. Versteh nicht.“
Guten Morgen, guten Tag, guten Abend. Wie geht’s.
Nach vielen holprigen Versuchen, uns, die Nachbarinnen und Kolleginnen und eigentlich die ganze Welt zu begrüßen, sind eigentlich alle Gebärden vom Vortag vergessen.
„Üben“, versucht Kawei uns erneut zu beruhigen, aber ich bin abends im Theater in Arnsberg. Das Stück „Wintergarten“ der dort lebenden, syrischen Geflüchteten soll bei uns aufgeführt werden. Da wird nach dem Schlussapplaus noch viel geredet.
Ich ertappe mich dabei, wie ich vor Stückbeginn noch einmal kurz das Fingeralphabet repetiere.
Ob es der viele Input der letzten Wochen, das schlechte Gewissen wegen zu wenig Üben, eine ungünstige Luftdrucksituation, oder einfach die Zeit dafür war, jedenfalls besucht mich am Mittwoch eine unfreundliche Migräne, die mich bis Nachmittags in Beschlag hält.
Am Donnerstag lerne ich den Begriff dafür und kann dem explodierenden Kopf nur zustimmen. Die Gebärde zeigt sie, nachdem sie uns in einer hinreißenden Performance erzählt, was sie den Abend zuvor am HBF erlebt hatte. Überall Polizei, Sondereinsatzkommando, ein Verrückter mit Axt wäre vorher dagewesen, hätte Menschen verletzt und alles wäre abgesperrt gewesen.
Die Frauen der Gruppe – ich bin der einzige Mann – erklären mir im Schnelldurchlauf und bei Partnerinnenübungen die gestrigen, neuen Gebärden, und ihre Unsicherheiten sind erfrischend beruhigend.
Nur eine Frau gebärdet schon recht fließend, wir anderen holpern weiter.
Das wird auch nicht besser, als wir mit den Zahlen beginnen.
Am Ende des Tages können wir uns nicht nur kaum mehr an eine Gebärde erinnern, es fallen auch einfachste Rechenvorgänge wie Addition oder Subtraktion komplett aus.
Wir schauen nur noch mit müden Augen unsere Finger an. Die schauen zurück und sagen: lass mich in Ruhe.
Der Freitag ist fast Erholung, auch, wenn er mit Zahlen, Handynummern, Nummernschildern Preisen für Alltagsgegegstände und Postleitzahlen beginnt und mit Mustern, Formen und Farben fortgesetzt wird.
Einmal ist Kawei böse, weil einige sich von einer Gebärdenden abwandten, weil eine Hörende eine Frage in den Raum rief und wir uns umdrehten um zu antworten.
Da der Augenkontakt zwischen Gebärdenden notwendig, ja unerläßlich für die Kommuniktion ist, (sollte bei Hörenden ja auch so sein), sehen Gehörlose es als Beleidigung an, wenn man sich von ihnen abwendet, während sie gebärden.
Das war aber auch das einzige Mal, dass Kawei böse war. Sie ist ein tolle Dozentin, aufmerksam und immer bestrebt, die Entstehung einzelner Gebärden verständlich zu erklären
Eine Woche, und sei sie auch noch so intensiv, reicht natürlich nicht aus, egal welche Sprache zu erlernen.
Wir haben von etwa 8000 gebräuchlichen Vokabeln vielleicht 120 Gebärden gelernt, und einige hab ich schon wieder vergessen.
Die Frauen haben eine Gruppe gegründet und wollen sich unregelmäßig in einem lauten Iserlohner Cafe treffen.
„Da versteht man eh nix. Da können wir gut gebärden.“
Kurz nach Mittag verabschieden wir uns herzlich von Kawei. Im Oktober geht es weiter.

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