Es war eine dieser dunklen Abende, an denen sich Erinnerungen mit Kußhand über jede friedliche Seele ergießen.
Er verließ seine Lieblingsfiliale der Bäckereikette, atmete noch einmal tief durch und betrat die Kolpingstraße.
Rechter Hand befand sich eine Wirtschaft, in der in seiner späten Jugend legendäre Schlachten geschlagen wurden.
Jetzt, nachdem der greuliche Wirt aus seinem Reich vertrieben und die große, dicke Kastanie vor seiner Gaststube gefällt worden waren, beherbergten die Räume philippinisch-irische Gastronomie.
Links der magische Berg, mit klotzgleichen Schuhen in der Auslage.
Gegenüber, hinter der Kneipe mit immer noch mit Plastik abgehängter Rückwand, eine schmuddelige Spielhalle.
Sein Nikotindealer verkaufte ein Haus weiter das Gift, zwei Häuser weiter war es die Apotheke.
Die folgende Textilreinigung, dessen früherer Besitzer den Gerüchten zufolge in einem französischem Bordell gestorben sein sollte, mutierte langsam zu einem Puschelparadies für Strickliesel und Häckelhansel.
Pommesbude rechts, Pommesbude links.
Die besten Pommes bekam man heute in der Bude rechts. Wer sitzend essen wollte, ging in den gepflasterten Wintergarten mit hellenischem Kitsch und Nippes oder in die angrenzende Kneipe, dessen Besitzer es geschafft hatte, das Blut in seinem Körper komplett durch Ouzo zu ersetzen.
Die Pommesbude links betrat er mittlerweile äußerst selten.
Sie gab es schon sehr lange. Als Jugendlicher hatte er sich regelmäßig zu Karneval in ihrer Toilette übergeben.
Der Besitzer, mit dessen Sohn er in der Schule gewesen war, entpuppte sich später als übler Miethai, der die alte Pension am Anfang der Straße mit Menschen, vornehmlich aus osteuropäischen und türkischen Regionen vollpfropfte und aus der Kegelbahn eine weitere Pommesbude baute, die schnell die Runde als Altölgrill machte.
Direkt daneben die nächste Spielhalle und ein Kiosk, welcher früher Pornobüdchen hieß.
Der Bürgersteig in diesem Bereich war bei Regen glatter als poliertes Eis, was an der glasierten Oberfläche der roten Pflastersteine lag.
Die nächste Apotheke, eine Bank, ein Bausparladen, eine Werbefirma, in der früher ein Original eine Polsterei und Sattlerei unterhielt.
Er war sich nicht sicher, ob die haareschneidende Politposse der heimischen Sozialdemokraten schon damals in dem Laden gegenüber Menschen frisierte, jetzt jedenfalls stand der Laden, wie unzählige andere in der Stadt, schon lange leer.
So, wie die Räume der ehemaligen Zeitung leerstanden.
Er hatte drei Jahre dort gearbeitet und genug über den Weg von Information gelernt, um veröffentlichten Nachrichten grundsätzlich zu mißtrauen.
In den unteren Räumen der toten Zeitung wurschtelte ein Billigbäcker vor sich hin, in direkter Nachbarschaft zur Sparkasse, auf die er nicht mehr gut zu sprechen war.
Nachdem er dreißig Jahre dort Kunde gewesen war, fiel den Angestellten in seiner letzten, finanziellen Krise nichts Besseres ein, als sein Konto an ein Inkassounternehmen zu verkaufen.
Schande über sie, dachte er. Und einen ausgeprägten Hammerzeh in zu engen Schuhen.
Das nächste Haus war mit Erinnerungen an ausgestopfte Tiere, Geweihe, Lateinnachhilfestunden und Enid Blyton gefüllt. Als Kind ging er dort ein und aus.
Vier Bürgerhäuser rechts und links und in etwa baugleich dem Haus, in dem er schon so lange wohnte.
Eine Pizzeria, die in den Achtzigern Schlagzeilen mit ihrem Meerwasseraquarium, ihren so schrecklich unbequemen Stühlen und den Plastikstalagtiten machte.
Wieder eine Spielhalle, deren Betreiber per Gerichtsbeschluss das „Casino“ Schild entfernen mußte. Früher war das ein Supermarkt mit zwei Ein- und Ausgängen, die er oft wie einen Durchstich zur Paralellstraße nutzte.
Schräg gegenüber war der Supermarkt später neu gebaut worden, aber mittlerweile auch schon wieder abgerissen. Die Schutthaufen lagen noch, angereichert durch fremden Hausmüll.
Die nächsten Häuser waren seine Kinderstube und sein Jugendzentrum. Hier gab es die ersten Sexualkontakte, hier war sein Kiez.
Die Kneipen, bis auf eine, gab es nach wie vor mit immer wechselnden Besitzern.
Mal waren sie Kontakthof und Bordell, mal illegaler Spielclub im Heizungskeller. Manchmal in türkischer, manchmal in griechischer, manchmal in italienischer Hand.
Das war die Zeit, in der die Exekutive nicht vermutete, dass in Kleinstädten wie dieser die Verteilerzentren von Rauschgiften und Waffen aller Art zu Hause waren.
Damals, so dachte er, gab es täglich Schlägereien, Freitags Messerstechereien und einmal im Monat wurde auch schon mal geschossen.
Heute war es das multinationale Zentrum der Stadt mit fünfundneuzig prozentigem Männeranteil.
Er lebte gerne hier, wenn nur die zahlreiche Kundschaft des nachbarlichen, türkischen Frisörs ihre Kippen und Kaugummis nicht überall vor seinem Haus verteilen würde.
narr
Fein formulierte Sammlung detaillierter Eindrücke mit prima Schluss! Und wenn man die Gegend kennt, kann man Dir gut folgen. Würde gern die dritte oder vierte Fassung dieses Textes lesen wollen.
Ich auch. Aber da muß ich noch ein wenig sammeln und graben. Doch es kommt. Demnächst. Hier im Lügenland.