„Hast Du Dich schon mal enthalten“, fragt das Kind die Mama.
„Öh, nö“, antwortet diese.
„Was wählst Du bei der Kanzlerwahl?“
Mama schürzt die Lippen, schaut mich an, schüttelt den Kopf und hebt resignierend die Schultern. Antwort gibt sie keine. Des Tochters Aufmerksamkeit liegt jetzt bei dem roten Gratislolli.
Ich mag die Mama, war auch mal verknallt in sie. Eigentlich eher in ein Bild von ihr und in daraus resultierende Vorstellungen.
Mama hat sinnliche Lippen. Schon immer gehabt. Einmal sah ich sie in der Innenstadt mit einem völlig zerkauten Mund, der ganz klar Auskunft über ihre Tätigkeit der letzten zwölf Stunden gab.
Da es mir an dem Tag ähnlich ging, hatten wir vielleicht die gleichen Schwingungen, den gleichen Geruch oder deckungsgleiche Bilder.
Lustvolle Nacht, bis die Körper vor Erschöpfung abwinken, und Gebrauchsspuren wie Kratzer, rote Flecken, Schwellungen, Überdehnungen und eben diese zerkauten, überstrapazierten, glänzenden Lippen das Äußere dominieren.
Wir erkannten uns, erkannten einen Teil von uns. Das machte uns lächeln. Macht es immer noch.
Das Kind hört auf, mit den Beinen zu baumeln, legt die Stirn in Falten und ploppt mit dem roten Lolli.
„Was genau ist eigentlich ‚Enthaltung‘?“
narr